Tischgemeinschaft bei Brot & Rosen, oder: Wie leben wir Solidarität & Spiritualität im Alltag?

Uta Gerstner

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Das Haus der Gastfreundschaft

Seit knapp drei Wochen sind sie nun bei uns im Haus. Die Freude der jungen Mutter, als Papierlose mit ihrem Baby bei uns nun ein Zimmer für sich allein und dazu auch Anschluss an eine bunte Groß-Familie gefunden zu haben, die strahlt zu allen im Haus zurück. Und am abendlichen Esstisch ist jede*r beglückt, das kleine Menschenkind auch einmal im Arm halten zu können.

25 Jahre lang lebe ich nun mit meiner Familie im Haus der Gastfreundschaft und realisiere hier meinen Traum von einer gerechteren Welt an einem konkreten Ort, in der für verschiedenste Menschen und besonders für Schutzbedürftige (ein) Platz zum Leben ist.

Seit 1996 laden wir Geflüchtete zum Mitleben in unser Haus ein, die „sonst keinen Raum in der Herberge“ finden können. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Notlagen zu uns und bekommen hier einen Platz am Tisch, ein Bett zum Schlafen und Zeit, ihr Leben nach einer Krise neu zu sortieren und selbst in die Hand zu nehmen.

Feuer gefangen

Zu diesem Leben inspirierte mich nicht nur mein tiefer Wunsch, für meinen Glauben an die Liebe Gottes, die allen Menschenkindern gilt, einen stimmigen Lebensstil zu finden. Sondern mich beeindruckten auch die Erfahrungen ganz besonderer Tischgemeinschaften, die ich im Sommer 1991 mit meinem Mann in sogenannten Catholic Worker-Houses of Hospitality in den U.S.A. machen konnte.

Im „Dorothy Day House“ in Washington erlebten wir mit, wie eine kleine christliche Gemeinschaft seit vielen Jahren in ganz besonderer Weise zusammenlebte (bis heute!). Beim täglichen Morgengebet lobten sie Gottes Liebe für die Geringsten und bereiteten sich so auf ihren täglichen Dienst vor: Sie betrieben eine Suppenküche für die Ärmsten und nahmen Obdachlose, Geflüchtete oder Strafentlassene in ihr Haus auf. Mit Mahnwachen vor dem Weißen Haus und anderen politischen Protestaktionen brachten sie ihren Widerstand gegen gesellschaftliches Ungerechtigkeit, Verarmung und Militarismus zum Ausdruck.

Vision einer Lebensgemeinschaft

Mich faszinierte diese im Alltag umgesetzte Verbindung von Glauben, Dienst und Widerstand, die ich vorher noch nirgends so erlebt hatte. Bei uns kannte ich nur die „Frommen“ oder die „Politischen“, aber beides zusammen – das motivierte uns junge Leute im deutschen Catholic Worker-Freundeskreis! Deshalb trafen wir uns seit 1993 regelmäßig, um unsere Vision eines Hauses der Gastfreundschaft zu konkretisieren.

In der Reflektion der politischen Situation in unserem Land nach der faktischen Abschaffung des Asylrechtes 1993 wurde uns bald klar, dass die Entrechteten, Geringsten und über den Rand unserer Gesellschaft hinaus gedrängten Menschen besonders die Flüchtlinge sind.

Wir gründeten unseren Verein „Diakonische Basisgemeinschaft“, mit dessen Spenden und Kollekten wir seitdem unser Haus der Gastfreundschaft finanzieren, also die Miete, Haushalt, Taschengeld etc.

Herausforderung Gastfreundschaft

Wir leben miteinander in einem Großfamilien-Haushalt mit etwa 22 Menschen. Eine Gemeinschaft von aktuell vier Erwachsenen bildet den Kern von Brot & Rosen. Dazu kommen ein bis zwei Freiwillige, die für einige Zeit im Haus mitarbeiten.

Und dazu kommen unsere jeweiligen Hausgenoss*innen in den 12 Gäste-Zimmern. Manche bleiben nur ein paar Tage, mit anderen haben wir drei, vier ja sogar sieben Jahre zusammengelebt, je nachdem, wie sich ihre Situation und Perspektive entwickelt. Die meisten brauchen unser Haus etwa 1 – 1,5 Jahre, bis sich ein neuer Weg für sie auftut. Über 350 Menschen sind es nun schon über die Jahre gewesen, die wir in unser Leben und in die Hausgemeinschaft aufgenommen haben. Bei manchen erinnere ich die Namen nicht mehr, aber andere sind ein Teil meiner neuen Hamburger Familie geworden.

Mit der Zeit wächst im alltäglichen häuslichen Miteinander Vertrautheit und Verantwortlichkeit und unsere Gäste werden zu Mitbewohner*innen. Wir leben ja wie in einer großen Wohn-Gemeinschaft zusammen und haben einen großen Küchen-und Essbereich und ein großes Wohnzimmer. Die Hausarbeit ist unter allen aufgeteilt. Jede*r hat eine Putzaufgabe. Es wird abwechselnd gekocht, was die Hamburger Tafel gerade ins Haus bringt oder wir vom Bioladen aus dem Stadtteil geschenkt bekommen. Gemeinsamer Treffpunkt ist das abendliche Essen im Esszimmer, zu dem (fast) alle zusammen kommen: essen, erzählen, traurig sein, lachen, spielen – alles hat Platz an dem großen Tisch.

Mit Jesus am Tisch

Am Ostermontag in unserer Hauskapelle werden wir als Kerngemeinschaft wieder unsere Verbindlichkeiten erneuern – in der Erinnerung an die Emmaus-Jünger*innen und im Vertrauen darauf, dass es Jesus selbst ist, der uns auf dem Weg im Fremden immer wieder neu begegnet und mit uns am Tisch das Essen teilt. Jeden Wochentag beginnen mit unserem gemeinsamen Morgengebet mit Bibellesung und Stille. Montags ist unsere Andacht um Fürbitte und Abendmahl erweitert. Wir nehmen und geben einander Brot und Traubensaft weiter und lassen uns damit am Tisch Jesu stärken für unsern Alltag.

Genau über der Kapelle steht der große Esstisch, an dem wir das, was wir zum Leben bekommen, miteinander teilen.

Leben - geschenkt

Das fällt uns nicht sehr schwer, denn der gesellschaftliche Überfluss schwappt auch in unser Haus und wir bekommen vieles geschenkt: Lebensmittel, Kleidung, Möbel, Haushaltsgegenstände, Kinderspielzeug.

Dass das Leben ein Geschenk Gottes ist, erfahren wir so täglich und sehr spürbar. Für mich ist es Glaubenspraxis, gerne zu teilen und weiter zu schenken, was wir geschenkt bekommen.

Als Gemeinschaft engagieren wir uns auch in der Hamburger Flüchtlingsarbeit. Es wird für uns immer unerträglicher, bei unseren Mitbewohner*innen miterleben zu müssen, wie unser Staat und die EU-Flüchtlingspolitik Lebensrecht und Lebensentfaltung so vieler Flüchtlinge untergräbt und verhindert.

Wie lange wird es wohl bei der jungen Mutter dauern, bis sich neue Lebenssituation mit Kind auch rechtlich stabilisieren wird? Das wissen wir nicht, aber wir merken, dass wir gerne mit ihr zusammen leben und mit all den anderen.

Grenzen fließen

Eine der schönsten Erfahrungen für mich ist, wenn wir bei uns selber zu Gästen werden:

Mit uns lebte einmal eine kurdische Familie, die schon sehr bald zu Mitbewohner*nnen geworden waren: Zum Geburtstagsfest ihrer Kinder oder auch zum Totengedenken an die verstorbenen Großeltern haben sie uns eingeladen als ihre Gäste. Da wurden nun wir am gedeckten Tisch mit herzlichen Worten empfangen und leckeren Speisen bewirtet – von ihnen als den Gastgeber*innen!

http://www.brot-und-rosen.de/