Ordensspiritualität in säkularen Einrichtungen

Ulrike Gentner

Kongress | Samstag, 30. Nov 2019

Ordensspiritualität in säkularen Einrichtungen

Ulrike Gentner

Kongress | Samstag, 30. Nov 2019
[origineel]

1. (Gott in allen Dingen finden)

Um ignatianische Spiritualität zu verstehen gibt uns der Jesuit Alfred Delp einen tiefen Einblick:

Das Eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen, wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt … für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort.“

Wie kommt ein Mensch dazu, aus dieser Zuversicht zu schreiben? Sind all unsere Tagesereignisse gotthaltig?
Am 17. November 1944 konnte der Alfred Delp diese Zeilen heimlich aus dem Nazi-Gefängnis in Berlin schmuggeln. Von der „Gottesgegenwart in allen Dingen“ erzählt er — auch im Gefängnis, mit gefesselten Händen, inmitten von Terror des Nationalsozialismus und naher Hinrichtung. Wie kommt Delp, dem Weltflucht fremd ist, zu solch mutigen, mystischen Äußerungen? „Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen.“ „Schön wär’s“, mag es aus uns schreien. Wie viel Enttäuschung und Anstrengung ganz zu schweigen vom Hunger und Unrecht in der Welt — und dann diese Erfahrung: Die Welt ist Gottes so voll. Delp hat den Brunnenpunkt gefunden, die Mitte und Fülle. Seine Diagnose gibt zu denken und ermutigt – auch heute.

Drei Bausteine bilden aus unserer ignatianischen Sicht die Basis, die Gottes Grundbotschaften an uns Menschen sind:

1.1. Du, Mensch, bist OK

Pamplona/Spanien 1521, Ignatius Traum von einer Karriere als Ritter zerbrochen. Eine Kanonenkugel reichte nicht, ihm sein Heldentum gepaart mit Perfektionismus auszutreiben.
Erst im Rückblick sah Ignatius, dass sein großes Vorbild, Jesus, einen anderen Weg gegangen war. Jesus hat sich nie über andere gestellt. Im Gegenteil, er hat den Menschen auf Augenhöhe geachtet mit seinen guten und schlechten Seiten.

Dann hatte Ignatius am Ufer des Cardoner Flusses eine Erleuchtung! Während er sich entspannte, begann er auf einmal, Zusammenhänge zu sehen, die ihm bisher verborgen geblieben waren. Ihm ging auf, dass Gott der tiefste und schönste Kern aller kosmischen Prozesse ist; dass Gott nie draußen oder abwesend ist, sondern da im Hier und Jetzt.

Ignatius verstand nun, dass er sich vor Gott nicht beweisen muss. Ihm ging auf, dass er wertvoll ist, weil er Teil einer Schöpfung ist, von der Gott sagte: Sie ist gut! Er hatte erkannt, dass Gott nicht strafend, beurteilend oder durch gute Werke bestechlich ist. Würde muss man sich nicht erst verdienen. Er hörte Gott sagen: Du bist OK!

Was Ignatius hier verstand, ist für säkulare Organisationen enorm wichtig: Nur wer sich selbst geliebt weiß, kann andere aufrichtig lieben. Diese Haltung wird konkret, wenn man immer wieder bewusst versucht, das Gute und Wertvolle in sich selbst, in anderen Menschen, ihrem Handeln, Verhalten und Sprechen zu finden und ihnen zu vermitteln, dass sie wertvoll sind und Würde besitzen.

„Du bist ok“ – für vielen Kollegen und Kolleginnen aus säkularen Einrichtungen, auch für katholisch Menschen ist dies bedeutsam, die oft tief verunsichert sind: „Wer bin ich eigentlich?“, „Ist mein Glaube richtig?“ Passe ich? Darf ich sein, so wie ich bin?

Die ignatianische Spiritualtiät ist hier goldrichtig: denn wer sich geliebt fühlt und innerlich frei ist, kann Freiheit ermöglichen. Du, Mensch bist ok! Gott sagt „JA“ zur Welt und zu jedem einzelnen Menschen. Der Mensch hat Würde, obwohl er nicht perfekt und endlich ist. Das gibt Halt, Orientierung und prägt die Haltung. Eine Haltung zu haben bedeutet, aus einer Grundüberzeugung heraus zu handeln. Das formt das Verhalten und die Gestaltung von Strukturen und Verhältnissen in auch säkularen Organisationen und Interaktionen.

1.2. Gott sagt: Ich bin da!

Wenn an der Bushaltestelle ein Streit zwischen Kindern ausbricht: Gott ist da.
Wenn eine Ehefrau oder Mutter stirbt: Gott ist da.
Wenn eine Firma insolvent zu gehen droht und Menschen mit Versagensängsten kämpfen: Gott ist da.

Gott ist überall da – in jedem Moment. Also, woran erkenne ich, ob Gott da ist? Wie ist das bei Ihnen? Vielleicht beschreibt Sehnsucht Ihr Verhältnis zu Gott. Gottes Wort nährt in uns die Sehnsucht – wie eine Gitarrensaite, die Gott in uns stimmt und zupft.

Darauf bauen Führungskräfte und Mitarbeiter_innen aus dem ignatianischen Geist:

  • Sie rechnen mit Gott, im Hier und Jetzt.
  • Sie fördern eine Kultur der Achtsamkeit, der Unterbrechung, des gemeinsamen Hörens auf die Gegenwart und Stimme Gottes. Ja, man darf z.B. vor, während und auch nach Meetings beten, stille Momente einbauen. Was würde Jesus dazu sagen, was wir gerade tun? Und wie passt das zu Jesus und meinen Werten und denen der anderen?
  • Die ignatianische Kunst der Reflexion ist mehr als bloßes Nachdenken, sie braucht auch den Raum der Stille, der Gottes Stimme und der Intuition eine Chance lässt.

Die Ignatianische Spiritualität ist eine Zumutung für den säkularen Raum. Wir halten die Frage nach Gott wach, nicht nur theoretisch, sondern wir gehen von der realen Annahme aus „Gott ist da und liebt dich“. Was heißt das im Jetzt konkret? Das bedeutet, die Menschen nicht allein lassen, die eine Sehnsucht spüren nach „Mehr“ oder dass es Transzendenz gibt. Mit ihnen eine Sprache entwickeln jenseits von Schemata, sondern was bedeutet es konkret für Dich, für mich? Und herausfinden, was der Anspruch Gottes sein könnte.

Da braucht es auch die Unterscheidung der Geister. Die ignatianische Spiritualität geht davon aus, dass in uns allen die motivierenden Kräfte des Geistes Gottes wirken.

Wer ich bin und was mir das Leben bedeutet, beantworte ich in den vielen kleinen wie großen Entscheidungen meines Lebens. Nicht selten trifft ein Mensch eine Wahl nicht aus freier Entscheidung, sondern nach Vorlieben, Zwängen, Abneigungen.

Bei all den inneren Prozessen gibt es zwei entscheidende Fragen:

  • Wo zieht es mich hin?
  • Wo fühle ich mich gerufen, berufen?
    Die Fragen zielen auf den eigenen Kern, das innere Erleben, Denken und Fühlen. Doch in unserem Leben gibt es viele Stimmen von außen und innen, die uns in alle möglichen Richtungen ziehen wollen. Lernen, die Geister, die inneren Teammitglieder und ihre Stimmen zu unterscheiden und den Verstand zu gebrauchen. Ignatius von Loyolas‘Unterscheidung der Geister kann helfen, freie Entscheidungen zu treffen. Wie geht das? Zusammen mit Gott – wie mit einem guten Freund – auf die Situation schauen vgl. die Schritte auf der Karte.

1.3. Ich brauche dich!

Jedem und jeder von uns sagt Gott: Ich brauche Dich! Folge mir nach! Ignatius hörte diesen Ruf Gottes in La Storta. Mit den ersten Jesuiten ging er damals nach Rom und hatte eine Vision „….worauf Jesus gesagt habe: ‚Ich will, dass du uns dienst.‘

Schauen wir auf Jesus: im Gleichnis vom barmherzigen Samariter hat er uns einen Auftrag gezeigt. Das „Dienen“ ernstnehmen. Es geht nicht nur um mich, sondern um einen Betrag für eine gerechte Welt, lokal und global. Für uns gehören Glaube und Gerechtigkeitzusammen, was sich in dem Programm der früheren Generaloberen Aruppe und Kolvenbach spiegelt. In unserer Bildungsarbeit achten wir auf die folgenden Punkte und empfehlen sie Ihnen sehr. CONSCIOUSNESS – Bewusstsein meint: Achtsamkeit nach innen und außen, auch spirituell. Frei und wach zu bleiben dafür, was wirklich zählt, was ich für mich und Gott von mir will, der ständig zu mir spricht. COMPASSION – Barmherzigkeit meint: Offenheit und Solidarität gegenüber Anderen: Empathie und Perspektivwechsel.

So führt Compassion zum COMMITMENT. Gott sagt zu jedem Menschen: Du hast eine Verantwortung für Deine Lebensgestaltung und die Welt. Jesus nachzufolgen bedeutet auf der individuellen Ebene Nächstenliebe, und auf der strukturellen Ebene Einsatz für die Gerechtigkeit – das ist die Antwort auf das “Ich bin da” des Vaters. Consciousness, Commitment und Compassion erweitern das Handwerkszeug und verleihen Tiefe und Sinn. Hinzu kommen COMPETENCE und CREATIVITY. Erst der richtige Mix dieser Zugänge hilft Menschen, ihr Leben und ihre Organisationen auszurichten.

Diese 5 C sind eine Brücke in den säkularen Raum, auch zu Menschen, die sich von ähnlichem Ethos oder Quellen bewegen lassen.

Das heißt: Religion ist nichts Exklusives, sondern Menschen guten Willens – auch aus anderen Traditionen – finden einen Ort der Begegnung und des Handelns.

2. Praxis

Die Bildungsarbeit ist ein hervorragender Ort für den Praxistransfer dieser Spiritualität: eigene Erfahrungen machen, vertiefen, und weitertragen sei es in

  • Schulen ob in freier Trägerschaft oder staatlich bei der Organisationentwicklung
  • Leadershipkursen für Leitungskräfte aus kirchlichen Einrichtungen, Krankenhäusern wie weltlichen Unternehmen, die einen wertebasierten Zugang befürworten bzw. neue Wege suchen
  • Kaminabende für Führungskräfte im Link von Wirtschaft und Kirche für einen Perspektivwechsel und die einen Unterschied machen wollen
  • Exerzitien im Alltag für Menschen, die unterbrechen, dem Hamsterrad entkommen und mehr zur eigenen Mitte finden wollen.

3. Abschluss

Ich glaube, dass Sie oder Menschen in säkularen Organisationen auf Grundlage der drei Bausteine

  • Du bist OK – sich geliebt wissen, was innerlich frei macht
  • Ich bin da – auf die Sehnsucht hören
  • Ich brauche Dich – Sendung

einen Weg entwickeln können, der Ihr Leben reicher machen wird und der Welt Perspektive gibt. Gott braucht Sie, damit die Welt besser wird und Sie werden auf diesem Weg Glück, Erfüllung und Sinn finden.

Mich führt die ignatianische Spiritualität in die Freiheit, immer freier in Christus zu werden. Aus eigener Erfahrung, aus den Exerzitien wie im Alltag weiß ich, dass die auftretenden Spannungen eine Kraft- und Inspirationsquelle sein können. Ich vertraue darauf, dass ich diesen Weg nicht allein gehe – begleitet von Jesus, auch wenn ich mal dafür blind bin, und von anderen Menschen. Die Perspektive „Gott in allen Dingen zu finden“ leitet mich in den schweren Stunden, tiefer zu gehen, zu fragen.

Ich arbeite gerne in einer von Jesuiten und vom Bischof getragenen Akademie: diese Vision zu teilen, als Männer, Frauen, Jesuiten und Laien, Suchende und Findende, aufzubrechen ohne Plan im Vertrauen, Gott unterwegs zu begegnen wie die Emmausjünger oder im Verkosten des Augenblicks wie die Frau am Jakobsbrunnen.

Nach Ignatius von Loyola empfehle ich:

Vertrauen Sie so auf Gott, als hinge der gesamte Erfolg der Dinge von Ihnen ab, nichts von Gott;
wenden Sie den Dingen jedoch alle Mühe so zu, als werden Sie nichts, Gott allein alles tun.

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Über den Autor

Ulrike Gentner

Ulrike Gentner, geb. 1960, Theologin und Pädagogin, Stv. Direktorin des Heinrich Pesch Hauses in Ludwigshafen und Co-Leiterin des Zentrums für Ignatianische Pädagogik.